Die Yoco-Jäger: Das Volk der Secoya und die Urwaldliane Yoco

 
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Delfin hockt tief über einer großen Lehmschale gebeugt und kratzt vorsichtig die orangefarbene innere Rinde von einer dicken, hölzernen Yoco-Liane. Es ist noch vor Tagesanbruch. Das Licht eines kleinen Feuers erhellt seine scharfen Züge, wie in Stein gemeißelt – 85 Jahre Leben im Wald. In einer kleineren Schale aus einem Kürbis mischt er das Mark der Pflanze mit Wasser, das eine kräftige orange Farbe annnimmt. Er pustet auf das Getränk und vertreibt damit die bösen Geister – „oosh, oosh, oosh“ – wie wenn er Yagé servieren würde, den heiligen halluzinogenen Trank, auch bekannt als Ayahuasca. Er reicht den Kürbis seinem erwachsenen Sohn Miguel, der die bittere Flüssigkeit in einem Zug leert. Sie verbringen die nächste Stunde plaudernd und damit, chambira Palmenfasern zu strapazierfähigen Schnüren zu weben, die für die Herstellung von Hängematten, Taschen und anderen Handwerksprodukten verwendet werden. Für diese Secoya, Vater und Sohn, beginnt der Tag traditionsgemäß, ziemlich genau wie jeder andere Tag, so lange die Erinnerung der Secoya zurückreicht.

Delfin bereitet den Yoco-Trank zu, indem er die innere Rinde von der hölzernen Liane kratzt. Photo: Alex Goff

Delfin bereitet den Yoco-Trank zu, indem er die innere Rinde von der hölzernen Liane kratzt. Photo: Alex Goff

Yoco ist eine Pflanze von grundlegender sozialer und spiritueller Bedeutung für die Secoya. Sie ist in der Tat so wichtig, dass die Secoya, oder Siekopai, in ihrer Geschichte ihre Siedlungsorte nach dem Vorkommen von Yoco wählten.

Der bekannte Ethnobotaniker Dr. Richard Evans Schultes nannte Paullinia Yoco „die wichtigste Nicht-Nahrungsmittelpflanze für die Wirtschaft der Indigenen“ in der Grenzregion zwischen Ecuador, Peru und Kolumbien. Sie wird sowohl von Frauen als auch von Männern getrunken und enthält Koffein und Theobromin und hat stimulierende, abführende, Brechreiz erregende, verhütende, abtreibende und psychoaktive Eigenschaften. 1927 schrieb der französische Chemiker M.L. Guignard Yoko den Nutzen zu, „Müdigkeit, Hunger und Übelkeit“ zu reduzieren, während der italienische Missionar Pinell behauptete, dass Yoco helfe, einer Vielzahl von Krankheiten vorzubeugen, inklusive Malaria.

Die Secoya pflegen ein komplexes Glaubenssystem rund um die Pflanze Yoco. Die Yoco- Liane wird fast als lebendiges Wesen betrachtet. Sie hat einen Geist, der berät, führt und Menschen anregt. Yoco-pai oder gente yoco viviente sind himmlische Wesen, verkörpert durch Yoco, die die Secoya beschützen und – gemeinsam mit anderen Geistern – das Leben fördern, indem sie Nahrung, Ressourcen und Wissen zur Verfügung stellen. Der Meister, oder dueño, der Yoco ist der cuacuiyó-Vogel (Lipaugus vociferans), der von der Frucht der Yoco angezogen wird und ihre Samen im Wald verteilt. Der Mann, der weiß, wo Yoco zu finden ist, wird als Jäger bezeichnet.

Während er draußen bei der Jagd ist, kommt Delfin an einer wilden, reifen Yoco vorbei. Um die Liane zu ernten, musste er den Baum fällen.

In der Kultur der Secoya spielt Yoco eine wichtige pädagogische Rolle. Männer stehen früh auf, um mit ihren Söhnen Yoco zu trinken und nutzen die Zeit, um Lehren, Werte und Wissen der Vorfahren weiter zu geben. So hat Yoco einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung junger Secoya zu verantwortungsvollen und reifen Erwachsenen. Aber Yoco hat auch seine gefährlichen Seiten. Es wird vermutet, dass jemand, der exzessiv Yoco trinkt, eine Vergiftung erleiden kann. Statt Ratschläge von der Pflanze zu erhalten, wird er oder sie wütend, launisch und unfähig, mit anderen Mitgliedern des Stammes zusammen zu leben. Wie bei allem muss für ein positives Ergebnis ein Gleichgewicht erreicht werden.

In der spirituellen Welt der Schamanen gibt es eine Verbindung zwischen Yoco und Yagé. Beide werden aus holzigen Ranken oder Lianen gewonnen. Wie Yagé ist Yoco ein Lehrer. Es ist ein bitterer Trank, der gefährlich sein kann für diejenigen, die nicht eingeführt wurden. Wenn Schamanen der Secoya Yagé trinken, können sie yoca-pai besuchen und mit ihnen kommunizieren und Unterweisungen und Rat bekommen, oder sie können mit dem Meister des Yoco, dem cuacuiyó kommunizieren, um Yoco im Wald zu finden. Beides zu tun, verlangt eine strikte Diät einzuhalten, sowie sexuelle Abstinenz und diszipliniertes Training.

Nicht jeder weiß, wie man Yoco im Wald finden kann. Die Ranke kann 25 Meter oder länger werden und ihre Blätter sind oft hoch oben in yarumo- oder balso-Bäumen vor den Blicken verborgen. Um wilde Yoco zu finden, muss der Jäger die Gewohnheiten des cuacuiyó kennen, dessen Lied die Anwesenheit der Ranke anzeigen kann. Die Beziehung zum cuacuiyó muss durch Rituale und Yagé aufgebaut werden. Viele Secoya pflanzten Yoco auch traditionell in ihren Gärten tief im Wald, an einem Ort in der Nähe des Wassers und mit viel Licht. Yoco braucht mehrere Jahre, um reif für die Ernte zu sein. Oft pflanzen Väter Yoco für ihre Kinder, damit diese in der Zukunft Yoco ernten können. Miguel könnte von der Yoco ernten, die Delfin gepflanzt hat, lange nachdem sein Vater gestorben ist.

Delfin kehrt ohne Fleisch von der Jagd zurück, aber mit einem wertvollen Fund: Yoco.

Delfin kehrt ohne Fleisch von der Jagd zurück, aber mit einem wertvollen Fund: Yoco.

Da die jüngeren Generationen nach und nach die Verbindung zum Wald verlieren, verblasst auch die Tradition des Yoco-Trinkens. Wenige Secoya werden Yoco ziehen und vorbereiten und noch weniger werden es im Wald finden können. Der Verlust der Yoco bedeutet auch den Verlust von wichtiger und inniger Weitergabe von Wissen von Vater zu Sohn. Er bedeutet den Verlust eines wichtigen Elementes der Spiritualität der Secoya. Wenn die Kommunikation zwischen dem Jäger und dem cuacuiyó endet, wer wird dann die Secoya zur Yoco führen? Wenn die Verbindung zwischen den Siekopai und den yoco- pai verloren geht, wer wird dann in Zukunft über das Volk der Secoya wachen?
 

Bibliografie:
Belaunde, Luisa Elvira and Echeverri, Juan Alvaro, “El yoco del cielo es cultivado: perspectivas sobre Paullinia yoco en el chamanismo airo-pai (secoya-tucano occidental)”, Antropología/Año XXVI, N.˚26, December 2008, pp.87-111.

Ramírez, Germán Zuluaga, El Yoco (Paullinia yoco) La savia de la selva, U. de Rosario Press, 2004.

 

Englischer Original Post: Alex Goff, Amazon Frontlines
Bilder: Alex Goff und Mitch Anderson
Übersetzung: Julia und Fabio Bär

 

 
Alex Goff